Uwe Schneidewind, Direktor des JRF-Instituts Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, ist der festen Überzeugung, dass an die Seite der naturwissenschaftlichen Klimaforschung und der Entwicklung neuer Technologien eine Transformationswissenschaft treten muss. Seine Meinung lässt sich in den aktuellen VDI-Nachrichten (Nr. 37 vom 14. September) nachlesen.

Quelle: Wuppertal Institut/A. Riesenweber


VDI-Nachrichten, 14. September 2018, Nr. 37

Mehr Mut zum Experimentieren

Den Klimawandel werden wir nur meistern, wenn wir ihm mit „Zukunftskunst“ begegnen, meint der Präsident des Wuppertal Instituts, Uwe Schneidewind.

Die lange Dürreperiode hat die Klimafrage für kurze Zeit wieder in das breite Bewusstsein und die großen Talkshows gebracht. Doch im Kern befindet sich der Kampf für eine klimagerechte Welt in der Defensive. Die Euphorie der Pariser Klimakonferenz des Jahres 2015 ist verflogen. Deutschland wird seine Klimaziele 2020 nicht erreichen, die Sorge vor wachsendem Populismus droht den notwendigen Kohleausstieg in weite Ferne zu rücken.

Für das Projekt einer „nachhaltigen Entwicklung“ mangelt es nicht an naturwissenschaftlichen Kenntnissen und technologischen Optionen. Auch gesamtwirtschaftlich ist die ökonomische Vorteilhaftigkeit eines engagierten klimagerechten Umbaus unserer Energieversorgung, unserer Mobilität, unserer Ernährung und unserer Städte längst aufgezeigt. Was fehlt, ist ein differenziertes Verständnis, wie sich politische und gesellschaftliche Veränderungsprozesse auch unter den aktuellen Randbedingungen auf den Weg bringen lassen.

An die Seite der naturwissenschaftlichen Klimaforschung und der Entwicklung neuer Technologien muss eine Transformationswissenschaft treten. Eine solche Wissenschaft ist interdisziplinär. Sie verbindet die Erkenntnisse der Natur- und Ingenieurwissenschaften mit denen der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Erst damit wird deutlich, wie Veränderung wirklich gelingen kann.

Uwe Schneidewind: Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst des gesellschaftlichen Wandels. S. Fischer-Verlag, Frankfurt a. Main, 2018, 528 S., 12 €

Nur wenn das Zusammenspiel technologischer, ökonomischer, politischer und kultureller Dynamiken verstanden wird, lassen sich umfassende Transformationsprozesse in modernen Demokratien auf den Weg bringen.

Neben diesem erweiterten Verständnis von Veränderungsprozessen bedarf es zudem einer neuer Haltung, die die Umweltdiskussion aus ihrer oft moralin-sauren Defensive führt.

Das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie bezeichnet diese erweiterte Perspektive in einem neuen Buch zur „Großen Transformation“ als „Zukunftskunst“. Zukunftskunst steht für eine neue Haltung und erweiterte Perspektive im Engagement für eine nachhaltige Entwicklung.

Was ist Zukunftskunst? Was zeichnet Künstler aus? Es ist ihre Kreativität, ihre Gestaltungslust, die Offenheit für das Experiment. Künstlerinnen greifen vielfältige Einflüsse und Stimmungen auf und verdichten sie in einem Kunstwerk. Auch Ingenieure sind in diesem Sinne oft Künstler, wenn sie technologische Lösungen für neue Herausforderungen entwickeln. Dieses kreative und lustvolle Moment ist bei der Diskussion über eine nachhaltige Entwicklung zunehmend verloren gegangen.

Die Antworten auf den Klimawandel werden als Verpflichtung, Zusatzbelastung und Bürde empfunden. Sie lösen ein schlechtes Gewissen statt Kreativität aus. Dabei steht hinter der Idee der nachhaltigen Entwicklung eine faszinierende zivilisatorische Vision: 10 Mrd. Menschen auch auf einem begrenzten Planeten die Chance zu geben, ein gutes Leben zu verwirklichen. Der Begriff der Zukunftskunst verkörpert diese Haltung und wirbt für einen multidisziplinären Blick auf Veränderungsprozesse.

Warum ist ein veränderter Blick gerade jetzt so wichtig? In einer Zeit, in der Entwürfe für eine offene und menschzugewandte Gesellschaft eher im Rückzug sind, braucht die globale Vision einer nachhaltigen Entwicklung kraftvolle und positiv belegte Begriffe, um selbstbewusst in die politische Diskussion eingebracht zu werden.

Nur so sind die Schützengräben zu überwinden, in denen die ökologische Debatte oft steckt. Mit einem solchen Blick lassen sich ein zügiger Kohleausstieg und ein erfolgreicher Strukturwandel in Regionen genauso verbinden wie eine postfossile Mobilität mit einer neuen Lebensqualität in unseren Städten oder eine nachhaltige Ernährungsversorgung mit einem gesunden Leben.

Getragen ist Zukunftskunst für eine nachhaltige Entwicklung dabei von der Lust am Experiment – ganz bewusst nicht nur beschränkt auf neue technologische Lösungen und neue Geschäftsmodelle, sondern auch bei der Suche nach kreativer, politischer Steuerung und einer neuen Wohlstands- und Konsumkultur. Weltweit erfinden Zukunftskünstler mit einer solchen Perspektive die Mobilität, die Energieversorgung, die Ernährung oder die Städte der Zukunft aktuell neu.

Ist eine „Große Transformation“ überhaupt noch realistisch? Mit dem Begriff der „Großen Transformation“ ist der umfassende und globale Umbau von Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft gemeint, um die Chancen einer nachhaltigen und klimagerechten Zivilisation zu wahren. Die notwendigen Anpassungen sind von der Klimawissenschaft seit vielen Jahren formuliert, viele Technologien zur Umsetzung entwickelt.

Dennoch haben sich die ökologischen Belastungen des Planeten und der meisten Länder in den letzten 30 Jahren dramatisch erhöht und nicht verringert. Der Tag, an dem wir die uns jährlich regenerativ zur Verfügung stehenden Ressourcen verbraucht haben („Earth-Overshoot“-Day) rückt immer früher ins Jahr. Weltweit lag er diesmal am 1. August, für Deutschland fiel er sogar in den April.

Die Ursache liegt im politischen und kulturellen Bereich: Es gelingt nicht, geeignete politische Rahmenbedingungen zu schaffen und die Wohlstandskultur moderner Industriegesellschaften zukunftsfest weiterzuentwickeln. Technologische Effizienzgewinne werden durch ökonomisches und Bevölkerungswachstum weit überkompensiert.

Ist es angesichts dieser Vorzeichen plausibel, noch auf die Möglichkeit einer „Großen Transformation“ zu hoffen? Durchaus. Denn kulturelle und politische Prozesse folgen keiner linearen Entwicklung. Die Durchsetzung neuer Wertvorstellungen und Orientierungen nimmt in vielen Nischen und Vorreitermilieus ihren Ausgang und verdichtet sich dann zunehmend.

Wann exakt der Durchbruch stattfindet, ist schwer zu prognostizieren. Das war bei der Abschaffung der Sklaverei oder der Einführung des Frauenwahlrechts ähnlich wie beim Mauerfall im Jahr 1989 oder bei der Entscheidung für die deutsche Energiewende im Jahr 2011.

Angesichts der Tatsache, dass sich europäische Staaten und weite Teile der Welt vor 75 Jahren noch im Zweiten Weltkrieg gegenüberstanden, ist die kulturelle Diffusion der Werte einer nachhaltigen Entwicklung eindrucksvoll. Das macht Hoffnung, dass politische und kulturelle Durchbrüche nicht weit entfernt sind, auch wenn die aktuelle politische Lage dies oft nicht vermuten lässt. Umso wichtiger ist es, dass an vielen konkreten Stellen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit Kraft und Kreativität an der Vision einer nachhaltigen Entwicklung weitergearbeitet wird.

Was heißt Zukunftskunst für die Rolle von Technologie und die Anforderungen an Ingenieure in Zukunft? Die Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung wird ohne neue Technologien nicht gelingen – bei der Energieversorgung der Zukunft, in der Mobilität, bei der Sicherstellung der Ernährung von 10 Mrd. Menschen. Gerade in der Digitalisierung liegen faszinierende Potenziale für eine klimagerechte Welt. Doch ist Technologie alleine noch kein Garant für eine nachhaltige Entwicklung. Das hat die Vergangenheit gezeigt.

Zukunftskunst bedeutet, technologische Möglichkeiten von Anfang an in ihren politischen und gesellschaftlichen Bezügen zu verstehen. Dies erfordert, sich früh in den Austausch mit der Gesellschaft und mit anderen Disziplinen zu begeben, um so zu Lösungsstrategien zu kommen, die mit den notwendigen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen Hand in Hand gehen. Zu oft wurden in der Vergangenheit technologische Lösungen über der Gesellschaft einfach nur abgeworfen und haben ökologische Herausforderungen oder gesellschaftliche Blockaden verschärft.

Auch die Digitalisierung trägt diese Gefahr in sich. Die Arbeit an einer „nachhaltigen Informationsgesellschaft“ ist daher eine der wichtigsten Nagelproben für eine Zukunftskunst in den kommenden Jahren.

Was muss als Nächstes passieren? Damit Deutschland vom Technologieführer zum umfassenden Zukunftskünstler einer nachhaltigen Entwicklung wird, gilt es an einer Reihe von Hebeln anzusetzen:

  • Statt isolierter „Modellversuche“ gilt es vermehrt großflächige Erprobungsräume auch für soziale und regulatorische Experimente aufzubauen. Das Bundeswirtschaftsministerium geht derzeit im Energiebereich den Weg solcher Reallabore für die Erprobung regulatorischer Innovationen. Dies wäre in anderen Ministerien auch für neue Mobilitätslösungen oder die klimagerechte Stadtgestaltung denkbar.
  • In den Schlüsselwenden von der Energie- bis zur Mobilitätswende bedarf es der Plattformen, in die neben Wissenschaft und Industrie früh gesellschaftliche Pioniere auf Augenhöhe einbezogen werden. Die Hightechstrategie des Bundes bietet hierfür Ansatzpunkte. Entsprechende Foren sollten aber auch auf Länder- und kommunaler Ebene entstehen.
  • Die Hochschulausbildung von Ingenieuren und Informatikerinnen sollte früh den Brückenschlag auch in sozial- und kulturwissenschaftliche Bezüge suchen. Dies fördert ein technologisches Denken in gesellschaftlicher Dimension.

Eine sich so entwickelnde Zukunftskunst könnte den Kern einer europäischen Variante verantwortungsvoller Zukunftsgestaltung bilden.

Uwe Schneidewind

  • Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie (seit 2010)
  • Professur für Innovationsmanagement und Nachhaltigkeit, Bergische Universität Wuppertal
  • Mitglied des Club of Rome
  • Mitglied des Wissenschaftlicher Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU)
  • Inhaber des Lehrstuhls Produktionswirtschaft und Umwelt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (1998 bis 2010), 2004 bis 2008 Präsident der Universität
  • studierter  Betriebswirt (Universität zu Köln), Promotion und Habilitation an der Universität St. Gallen